Montag, 22. Januar 2007

Die alte Seele

Es war einmal eine sehr, sehr alte Seele,
die viele Menschenleben auf der Erde gelebt hatte
und deren Dasein als Seele
jetzt ebenfalls zu Ende war.
Ja, bald würde sie mit der Ewigkeit verschmelzen
und ein Teil davon werden.
Im Augenblick saß die alte Seele
in der Leere zwischen
ihrem letzten Menschenleben und
ihrer zukünftigen Verschmelzung.
Sie fühlte sich ein wenig einsam.
Ihre besten Freunde waren auf und davon.
Die alte Seele konnte sie unten auf der Erde sehen,
wie jeder von ihnen einen Menschen
mit Eifer, Neugier, mit Erstaunen und
verschiedenen Gedanken füllte,

"Ich will dorthin gehen", sagte die alte Seele;
"denn ich habe immer noch eine ordentliche
Portion Freude übrig - ich will dorthin und sie
ihnen schenken."

"Aber die Zeit, die vor der Verschmelzung bleibt,
ist so kurz", warnte der Wächter.
"Natürlich kannst Du ihnen Freude schenken,
aber wenn Du nur so kurze Zeit bei ihnen bleibst,
schenkst Du ihnen zugleich eine große Trauer,
wenn Du sie verlässt."

"Ich weiß", sagte die alte Seele.
"Aber ich will es trotzdem."
"Ich will ihnen so viel Freude schenken,
dass sie ihnen danach über die Trauer hinweghilft."

"Dann soll es so sein, wie Du willst",
sagte der Wächter
und schickte die sehr, sehr alte Seele los.

Daraufhin bekamen ein Mann und eine Frau auf
der Erde ein Kind, das sie sich schon lange
gewünscht hatten.

Es war ein allerliebstes Kind,
das ihnen vom Tage seiner Geburt an
Freude bereitete.
Jene ungetrübte Freude, die Menschen empfinden,
wenn ihre Seelen einander begegnen.
Wenn sie sich dann aus der Ewigkeit wieder erkennen,
hüpfen sie vor lauter Freunde stundenlang.

'Aber bleibt dir nicht sehr wenig Zeit?'
flüsterte die Seele der Mutter zu der alten Seele
in dem kleinen Jungen.
'Ja, die Zeit ist kurz, aber die Freude ist groß',
antwortete die sehr alte Seele.

Und obwohl die Mutter dieses Gespräch nicht hörte,
weckte das Geflüster eine ahnungsvolle Unruhe
in ihr, einen Hauch des Wissens, dass wir nichts
auf Erden besitzen.
Einer den anderen nicht
- und nicht einmal uns selbst.
Alles wird uns irgendwann genommen werden.
Das, was wir mit uns tragen, alle Lieben um
uns herum, schließlich auch unser Leben
und unser Körper.

Der Junge wuchs heran.
Die Freude, die sie verbreitete, war so groß,
dass die Mutter die Gedanken vergaß und auch
der Vater freute sich.
Ja, die sehr alte Seele durfte ihre letzte Zeit
genauso verbringen, wie sie es sich gewünscht hatte.

Aber die Zeit war kurz,
auch nach menschlichem Maß.
Irgendwann würde der Augenblick
der Verschmelzung stattfinden.
Die sehr, sehr alte Seele erhielt den Ruf,
unverzüglich zur Zeremonie zu erscheinen ...
und musste gehorchen.

Für die Menschen sah es so aus,
als hätte ein plötzlicher Tod den Jungen ereilt.
Die Trauer der Eltern war maßlos;
genau wie der Wächter es vorausgesagt hatte.
Aber da alle Erinnerungen an ihr Kind nur Freude
und nichts als Freude waren,
konnten sie ihre Trauer ertragen;
genau wie die sehr alte Seele es vorgesagt hatte.

Diese Erfahrungen hatten organisatorische Folgen.
Wo man früher die sehr, sehr alten Seelen ihr
letzte Häppchen Zeit einfach in der Leere
hatte absitzen lassen,
bürgerte sich von nun an in der Ewigkeit die Sitte ein,
dass die alten Seelen zu Menschen,
die sich brauchten,
geschickt wurden, um ihnen ihre letzte große
Freude zu schenken.

Die Freude gibt den Menschen die Kraft,
die anschließende Trauer,
diese unausweichliche Trauer zu ertragen
und allmählich in etwas Gutes zu verwandeln...

1 Kommentar:

Anonymous hat gesagt…

"Die gute alte Seele" ... eine schöne Geschichte. Wenn es doch nur so wäre, vieles liesse sich dann leichter ertragen. Vor allem die große Trauer nach der kurzen Zeit einer unermesslich großen Freude.
"Ich bin der Preis für deine Werte. Ich bin der Spiegel deines Reichtums. In mir verewigt sich deine Liebe", so spricht die Trauer.
Diese große Trauer - sie sitzt tief im Herzen. Man kann sie nicht herbeizaubern und nicht wegillusionieren. Sie ist mehr als ein Gefühl - sie ist ein Wissen um ein verlorenes kostbares Geschenk. Nichts kann dieses Wissen ausradieren. Es ist immer da, wie eine Flüsterstimme, von Zeit zu Zeit lauter oder leiser werdend.
Immer wieder erzählend von diesem großem Geschenk der Freude - vielleicht zu Teil geworden durch eine "gute alte Seele".

Nehmen wir es so an!

Lieben Gruß von Manuela mit Sven immer im Herzen und in der Seele